Kaum ertönt der Song „Alles Drin“ der Band Ich & Herr Meyer, tanzen ein gutes hundert paar Füße und singen hundert helle, Energie geladene Stimmen mit. Wir stehen im Foyer der Kurt-Masur-Schule, einer Grundschule der Stadt Leipzig, es ist Freitag und es beginnt (nur zufällig am Freitag) der FREI DAY.
Ich bin an diesem Tag, dem 20.10. gemeinsam mit einer Gruppe engagierter Bildungsreformer bei „Schule im Aufbruch“ dabei. Wir werden von der Schulleiterin Frau Dubiel durch den Vormittag geführt, dürfen mitlaufen, beobachten und ganz viele Fragen stellen. Schule im Aufbruch hat das offene Lernformat FREI DAY entwickelt, das die Kurt-Masur-Schule mittlerweile fest in ihrer DNA verankert hat.
Der 2014 bezogene Schulneubau offenbart uns mit jedem Schritt mehr, dass hier viele (Kinder-)Wünsche wahr geworden sind. Dabei geht es um weit mehr als um die modernen Räumlichkeiten, mit dem künstlerisch gestalteten und lichtdurchfluteten Foyer, den Zwischenräumen zum Chillen und Spielen, dem toll ausgestatteten Werkraum, dem Medienraum mit grüner Wand (Greenscreen) und Videotechnik, dem Computerraum, den großzügigen Klassenräumen und Innenhöfen. Eine Wand reicht kaum aus, um alle Auszeichnungen und Preise der Schule auszustellen. Heute ist ein weiterer hinzugekommen: Der Deutsche Arbeitgeberpreis für Bildung 2023. Zwei Grundschülerinnen stehen auf der Bühne und präsentieren der anwesenden Schüler- und Lehrerschaft stolz die silberne Plakette. Ausgezeichnet wird die Schule für ihr „herausragendes Engagement zum Thema Spürbar Nachhaltig! Bildungseinrichtungen fördern nachhaltiges Lernen und verantwortungsvolles Handeln.“ Lauter Applaus. Nach dem Lied stieben die Kinder in lautem Chaos auseinander und verteilen sich. Plötzlich herrscht Stille.
Liebe Zukunft, Ich wünsche mir, dass wir entscheiden können was wir lernen, und wann wir lernen, und wie lange wir lernen.
Schülerkarte aus der Zukunftswerkstatt
Wir gehen los und treffen die ersten Schüler:innen im Werkraum wieder: sie reparieren ein Fahrrad zusammen mit einem Lernbegleiter, der für den Werkraum zuständig ist. Das Fahrrad ist eine Spende und soll für einen geflüchteten Jungen bereitgestellt werden, der in die 3. Klasse geht. Die beiden Jungs haben offensichtlich Freude am Handwerk und lernen dabei einiges über Physik und Technik. Nachdem wir die Treppe mit dem kleinen 1×1 auf den Stufen hochgelaufen sind, betreten wir die Bibliothek. Hier haben sich ein paar Schüler dafür entschieden, die zahlreichen neuen Bücher zum Thema BNE (Bildung für nachhaltige Entwicklung), Klima und Nachhaltigkeit neu einzusortieren. Die Dame, die dort arbeitet, ist im Rahmen einer Wiedereingliederungsmaßnahme der Stadt in der Bibliothek beschäftigt und erklärt gerade den Jungs, wie man die Bücher richtig listet.
Etwas weiter spähen wir in eine 3. Klasse. Ein entspannt wirkender Lehrer begleitet die Arbeit der Kinder in Kleingruppen. Zwei Schüler möchten in den Computerraum. Klar dürfen sie es. Ganz selbstverständlich heften sie ihren Namen an die dafür vorgesehene Leiste unter dem Magnet mit dem Computerraum. Eine Mädchengruppe beugt sich über ein iPad und recherchiert gerade zum Thema Mikroplastik im Meer. Eine konkrete Idee für ein Projekt haben sie noch nicht, sie sammeln erst einmal Informationen und versuchen, das Thema besser zu verstehen. Ein paar Jungs am Nachbartisch entwickeln ein Projekt weiter, das sie schon länger machen. Sie haben aus Abfällen einen Ball hergestellt und sich ein neues Spiel mit Regeln ausgedacht, den „Fuhandball“, einer Mischung aus Handball und Fußball. Das prototypische Spiel wurde bereits im Sportunterricht getestet und die Regeln daraufhin verbessert. Jetzt möchten sie eine „Umweltsportspielezeitung“ machen, um nachhaltige Sportspiele zu bewerben und Ideen zum Nachahmen in die Welt zu setzen.
Im Computerraum treffen wir Schüler:innen, die für ihre jeweilige Gruppe gerade digitale Aufgaben erledigen. Zum Beispiel entwerfen gerade ein Mädchen und ein Junge einen Brief an das Tierheim. Sie haben bereits gezeigt bekommen, wie eine korrekte Ansprache und eine Briefstruktur aussehen sollten, um beim Empfänger auf Wohlwollen zu stoßen. Im Medienraum drehen gerade einige Mädchen eine Szene vor dem Greenscreen mit einem iPad auf Stativ. Eine von ihnen verkörpert einen Tiger. Die Medienpädagogin, die den Raum bespielt, hat zahlreiche DIY-Anleitungen an die Wand geheftet, so dass die Kinder wissen, wie sie selber Stop-Motion Filme machen, Plakate und online Bücher erstellen oder eben kurze Filme drehen und schneiden können. Im schallgedämpften Musikraum ist gerade niemand, wie schade. Dort warten Band-Instrumente still und leise darauf, für ein Projekt wieder gebraucht zu werden. Oder vielleicht am Nachmittag, während des offenen Ganztages, an dem 98 % der Schüler:innen der Kurt Masur Grundschule teilnehmen.
Während die 1. bis 3. Klassen im Klassenverband bleiben, dürfen die 4. Klässler bereits klassenübergreifend in 4 Themenräumen arbeiten: Umweltprojekte, Tierische Themen, Soziale Themen, Freie und Kreative Themen. In den jeweiligen Räumen werden die Projektideen auf dem digitalen Whiteboard eingespeist und geclustert. Vier Mädchen aus unterschiedlichen Klassen haben sich zum Thema „Tiere rote Liste“ zusammen getan. Im Erdgeschoss besuchen wir das FREI DAY Büro, das von einer Schulverwaltungsfachkraft und einer Schulassistentin betreut wird. Zwei Stunden pro Woche führen sie die Leitzentrale des FREI DAYS: für die Einteilung von Lehrkräften für Ausseneinsätze, um Schüler:innen beim Telefonieren und Email-Schreiben zu unterstützen oder um den Schüler zu unterstützen, der die Buchhaltung der FREI DAY Kasse übernommen hat.
Mir sind die zahlreichen gut gepflegten Pflanzen im ganzen Gebäude aufgefallen. Diese werden von einem FÖJ-ler gepflegt, Freiwilliges Ökologisches Jahr. Die Schulleiterin hat hartnäckig um diese Stelle gekämpft.
Das, was so selbstverständlich und leicht erscheint, ist harte Arbeit. Für alles muss die Schulleitung spitzfindig Anträge stellen und mit den Geldtöpfen jonglieren. Aber es funktioniert. Selbst die Elternschaft kann für besondere Aufgaben gewonnen werden, wie zum Beispiel der saisonalen Instandsetzung des Schulgartens, in welchem Kräuter, Gemüse, Stauden, Büsche etc. wachsen. Das gemeinsame Jäten, Buddeln und Schneiden fördert den Austausch zwischen dem Schulleitungsteam, den Eltern und den Lehrkräften.
Die Schule öffnet oft und gern ihre Türen für Besucher:innen wie unsere Gruppe. Es war ein langer Weg bis hin zum Jetzt, der mit einer extern moderierten Zukunftswerkstatt für Lehrkräfte und Schüler:innen begonnen hatte. Dabei ging es nicht darum jeden einzelnen Wunsch zu erfüllen, sondern eine Vision für die Grundschule der Zukunft zu entwickeln und sich daraufhin auf den Weg zu machen.
Den gesamten Prozess der Entwicklung der Kurt-Masur-Schule hin zum FREI DAY kann man auf der Homepage der Schule in einer sehr ausführlich und anschaulich zusammengetragenen Dokumentation hier nachlesen. Was mich besonders beeindruckt hat, ist der unschätzbare Wert des Engagements der Schulleitung, die mit Mut und Geschick nicht nur Lösungen für das ewige Geldproblem findet. Von Anfang an hat sie auf die Ideen und die Beteiligung der Kinder gesetzt, das Kollegium in allen Prozessen integriert und individuellen Spielraum für das große Thema des Loslassens geboten. Dem Loslassen von tradierten Lehrerrollen der Wissensvermittlung und Bewertung, hin zur Rolle der Lern- und Prozessbegleitung., Denn nur so, ist auch sie überzeugt, können jene Kompetenzen bei jungen Menschen entwickelt und gestärkt werden, die sie für ein selbstbestimmtes und selbstwirksames Leben in dieser Welt brauchen: Mut zur Initiative, Kreativität, kritisches Mitdenken, Methodenwissen, gute Zusammenarbeit und Kenntnis von lebensnahen Themen, die sich sowohl lokal als auch global abspielen. Noch ist der FREI DAY, wie der Name schon sagt, ein Tag in der Woche, an dem freies Lernen etabliert ist. An den anderen vier Tagen findet jedoch der klassische Fachunterricht statt. Da auch diese innere Entwicklung Zeit braucht und nicht selbstverständlich ist, ist es notwendig, in Etappen zu denken.
Als Allianzpartner von Schule im Aufbruch möchten wir gemeinsam die Bildungslandschaft revolutionieren. Daher unterstützen wir den FREI DAY aktiv durch die Rolle, die Astrid als Multiplikatorin des FREI DAY von nun an erfüllt und mit dem komplementären Projekt IMAGInatives, das wir in die Schulen hineintragen. Das Projekt bietet eine langfristige Begleitung der Schulen auf ihrem Weg zum FREI DAY und zu weiteren offenen Lernformaten und unterstützt Lehrkräfte dabei, sich in ihrer Rolle als Lern- und Prozessbegleitung neu zu finden.
Falls du Interesse hast, mehr über das Thema des Loslassens und der Rolle als Lernbegleiter zu erfahren, sei es als Elternteil, Lehrkraft oder Schulleitung, melde dich gerne hier zu unserem Newsletter an:
Dort informieren wir über unsere Aktivitäten, geben Empfehlungen aus der Lese- und Netzwelt weiter und vertiefen wir in regelmäßigen Abständen Themen rund um Schulentwicklung, adaptierte Methoden aus der Arbeitswelt für den schulischen Kontext, Facilitation & Prozessbegleitung, agiles Arbeiten im Schulalltag oder innere, persönliche Entwicklung.