Darüber beklagte sich der römische Philosoph Seneca in einem Brief an seinen Schüler und forderte eine am praktischen Leben und am „gesunden Menschenverstand“ orientierte Bildung. Auch heute klagen viele über die Lebensferne im Schulalltag. Viele Lehrer:innen suchen bereits nach Wegen, um genau dies zu tun: Freiräume zu schaffen und mit ihren Klassen fürs Leben zu lernen. So auch die Klassenlehrerin Nele D., die in einer Gesamtschule in Köln die 5. Klasse betreut. Sie lud uns im Februar und März 2023 für 8 Wochen ein, einen Vormittag in der Woche die Zügel ihrer Klasse mit zu übernehmen. Sie hatte in diesem Zeitraum den FREIDAY von Schule im Aufbruch eingeführt und suchte Unterstützung, um diese offene Lernzeit zu gestalten.
Design Thinking für 10-jährige? Klar!
Wir wurden also damit beauftragt, ein an den 17 Nachhaltigkeitszielen orientiertes offenes Lernformat durchzuführen, bei dem die Kinder in kleinen Gruppen eigene Problemfelder identifizieren, für die sie gern Lösungsvorschläge erarbeiten und diese visualisieren möchten.
Konkret haben wir die Kinder altersgerecht mit Design Thinking vertraut gemacht. In Traumreisen und Dokumentationen haben sie die Inspiration gefunden, um Themenfelder zu finden, die für sie spannend sind. Nach einer Diskussions- und Gruppenbildungsphase konnten sich die Schüler:innen pro Gruppe auf ein Problem einigen, mit dem sie sich eingehender beschäftigen wollten. Dazu zählten etwa die gefühlte mangelnde Aufklärung über LGTBQ in der breiten Öffentlichkeit, die schwierige Filterung von Mikroplastik im Wasser oder die Problematik von Palmöl in Produkten des täglichen Bedarfs und damit verbundene Annahmen.
Manche führten daraufhin Befragungen in ihrem Umfeld durch, andere machten sich in der Bibliothek oder im Internet schlau. sie identifizierten die Zielgruppen, für die eine Lösung des Problems Vorteile bringen könnte, formulierten ihr Problemstatement, erstellten Personae und erarbeiteten kreativ und unvoreingenommen ihre Ideen und Prototypen (in diesem Fall: die visuelle Darstellung ihrer Idee, ob Poster, Film, Comic-Strip, Legomodell etc.). Die Gruppen stellten sich Zwischenergebnisse vor und erhielten Anregungen.
Interdisziplinär und in Kleingruppen arbeiten
Wollte man die Fächer auflisten, die die Projekte zusammengenommen tangierten, so zählten dazu: Deutsch, Erdkunde, Biologie und Physik, wobei auch Politik eine Rolle spielte, in der 5. Klasse jedoch nicht unterrichtet wird. Eigene Interessen verfolgen und dabei Lernziele erreichen – das muss das Ziel einer zukunftsorientierten Bildung sein. Zu den erstellten Prototypen zählten zum Beispiel ein gezeichneter Entwurf für eine Mikroplastik-Cluster-Maschine. Dabei ist nicht die Frage, ob so eine Maschine funktionieren könnte. Wichtig sind zunächst die unvoreingenomme Kreativität der Kinder und die Lust zu recherchieren, was Clustern bedeutet und wie es physikalisch funktioniert. Nächste Schritte wären altersgerecht auf den Stand der Technik und aktuellen Forschungsprojekten einzugehen, Experten zu befragen und die eigene Idee entsprechend weiter zu entwickeln. Am Tag der offenen Tür stellten die Kinder ihre Ergebnisse den Erwachsenen vor, diskutierten mit ihnen und erhielten Feedback.
Lernen im 21. Jahrhundert – eine Sache für die ganze Gesellschaft!
Die dahinter liegenden Fragen für die engagierte Lehrkraft waren: wie kann interessensbasiertes, projektorientiertes und fächerübergreifendes Lernen im Schulalltag gut gelingen? wie gut können sich Schüler:innen auf selbständige Team- und Gruppenarbeit einlassen, ohne dass am Ende Stifte und Stühle fliegen? Unter welchen Voraussetzungen kann das eine Lehrkraft leisten, die i.d.R. für ca. 30 Schüler:innen zuständig ist? Diese Fragen sind Kernelemente der Verordnung zu Bildung für nachhaltige Entwicklung an Schulen, die auch in NRW gilt, jedoch in der Umsetzung noch sehr viel Luft nach oben hat.
Diese Fragen sollten nicht nur Lehrer:innen und Schulen beschäftigen, sondern uns als Gesellschaft. Damit ist gemeint: uns als Mütter und Väter, uns als Mitarbeitende in Unternehmen, uns als Gestalter:innen von nachhaltigen Ansätzen und Maßnahmen, uns als zivil engagierte Bürger und Bürgerinnen. Denn eines ist klar und auch explizit im Nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung verankert: Schule und Außenwelt müssen verstärkt aufeinander zugehen – durch die Kooperation mit außerschulischen Bildungsakteuren, die Vernetzung mit Expertinnen aus Forschung, Wirtschaft, Kultur und die Einbindung von engagierten Begleitern. Dann wird möglich, was lernen im 21. Jahrhundert ausmacht und was die Kinder & Jugendlichen von heute als Gestalter:innen der Zukünfte brauchen: Erkenntnisse, Werte und Fähigkeiten, um in einer sich stark verändernden Welt selbstbestimmt, transformativ und verantwortungsvoll zu denken und zu handeln. Lernen fürs Leben eben.